Was tut eigentlich das Jahr in seinen letzten acht Wochen? Grau und ermattet von Kriegen, Konflikten, Inflation und Rezession? Glaubt man den Newsletter-Wortakrobaten, neigt es sich dem Ende zu. Jede Wette: Mehr als jeder zweite Adventsnewsletter und noch mehr Weihnachtskarten klammern sich an diese Formulierung. Bitte ich ChatGPT um sechs Vorschläge für den Einstieg in ein Weihnachtmailing, landet „Das Jahr neigt sich dem Ende zu und wir möchten uns bei Ihnen für Ihre Treue und Unterstützung bedanken“ auf Platz zwei.

Ich sehe das Jahr förmlich, wie es sich würdevoll in Richtung Silvester verbeugt, vielleicht auch nur entkräftet kippt. Dabei wurzelt die Wendung weder in der Verneigung noch die Zuneigung. Schon seit Jahrhunderten dient das Niedergehen der Sonne als Bild für den Abend. Mit ihr neigt sich der Tag. Und wenn die Sonne tiefer steht, neigt sich eben auch das Jahr. Erstaunlich oft lese ich „Das Jahr neigt sich dem Ende“. Dieser Formulierung fehlt das abschließende „entgegen“ oder „zu“, was sie für meine Ohren befremdlich klingen lässt. Einige spüren, dass das Ganze als Auftakt kraftlos wirkt und machen Tempo. Dann „neigt sich das Jahr „mit großen Schritten dem Ende entgegen.“ Und schlägt dabei dem Fass die Krone unter den Teppich, möchte man hinzufügen.

Seltener geht heute Zeit „zur Neige“. Die Neige war zunächst die Kippbewegung, die den letzten Schluck aus einem Fass oder einem Krug laufen ließ. Irgendwann ging der Begriff auf den Rest Bier oder Wein über. Das, was im Kneipenjargon „Uwe“, für „unten wird’s eklig“, heißt. Wenn Fass, Flasche oder Glas zu Neige gingen, war nur noch wenig zu holen. Und das Wenige war oft trüb, warm und schmeckte bitter. Noch später gingen dann auch Geld, Geduld und eben auch die Zeit zu Neige. „Weiß sind Türme, Dächer, Zweige, und das Jahr geht auf die Neige, und das schönste Fest ist da!“, schrieb Theodor Fontane in seinen „Versen zum Advent“.

Als Texteinstieg ist alles ohnehin nicht brauchbar. Natürlich kann ich die Leser dort abholen, wo sie stehen. Aber bitte nicht mit Selbstverständlichkeiten. Rilke begann sein berühmtes Herbstgedicht ja auch nicht mit „Es ist September“ oder „Die Tage werden kürzer“. Er blickt auch nicht auf die kommende Zeit, sondern wirft zunächst einen Blick zurück und bezieht eine höhere Macht ein: „Herr, der Sommer war sehr groß.“ Davon lässt sich was abgucken. Aufmerksamkeit und ein Gefühl von Relevanz entstehen, wenn Sie die Leser durch eine ungewohnte Brille sehen lassen oder ihnen den Rahmen um das Bekannte anders ziehen. Material liefert die Vorweihnachtszeit genug. Sie ist weder nur Krippenspiel noch ausschließlich Coronawelle. Vier Wochen vor Heiligabend verflechten sich Jahresabschlusshektik und Lebkuchenbacken, Erkältung und Adventssingen, Geschenkestress und Glühweinseligkeit. Aus diesem Fundus lassen sich unterhaltsame Geschichten, geldwerte Tipps und Lifehacks destillieren. Damit entschädigen die Jahresendgrüße angemessen für die Lesezeit – und schaffen geneigte Leser. Das macht etwas Arbeit. Aber lässt sich Kundenbindung noch sympathischer betreiben?

Sehr geehrte Frau Penunz,

Glühwein trinken mit Kollegen kann richtig Spaß machen. Auch wenn wir nie ganau wissen, was wir auf dem Weihnachtsmarkt in den Becher bekommen. Es geht ja um die Stimmung. Zuhause darf es aber zimtiger und fruchtiger in Nase und Gaumen steigen. Deshalb teilen wir hier unser Lieblings-Glühweinrezept mit Ihnen: (…)

Sehr geehrter Herr Kaufmann,

wir bei Klausen & Partner sind ja gar nicht so humorlos. Seit Jahren führen wir eine inoffizielle Hitliste der unverschämtesten Mandanten-Anfragen. Und obwohl das Jahr noch fünf Wochen hat, steht unsere Nummer eins für 2023 schon jetzt fest. Es geht auch um Weihnachtsgeschenke, deshalb verraten wir sie Ihnen. (…)

Liebe Unterstützer*innen,

zugegeben: von dem was wir kritisieren, profitieren wir auch ein bisschen. Es geht um die Zuwendungen von Unternehmen, die sie werbewirksam „statt Geschenken“ im Dezember überweisen. Ihr lest richtig: Diejenigen, deren klimaschädliches Verhalten wir das Jahr über anprangern, belohnen uns im Advent mit einem Scheck. Wie das? Die Antwort ist entlarvend: (…)

Zugegeben: Diese Einstiege setzen eher auf kognitive Dissonanz als auf Emotion. Doch wenn die Leser erst einmal aufmerksam geworden sind, können weitere Zeilen ihr Herz öffnen.

Wie halten Sie`s mit der Weihnachtspost?

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